Sonntag, 12. Februar 2012

Begreifen tief im Herzen

Heute hatte ich wieder ein wenig in einigen Büchern geschmökert, mal hier, mal da, ganz so, wie es mir beliebte. Die meisten von ihnen hatte ich bereits gelesen, die wenigsten kannte ich noch nicht. Meine Lieblingsstellen schlug ich auf, Stellen, die mir besonders gefallen hatten und die ich wieder lebendig werden lassen wollte; Stellen, an denen ich am herzlichsten gelacht habe, Stellen, an denen ich weinen musste, waren sie doch so traurig.
Irgendwann aber dachte ich so im Stillen bei mir, kommt doch die Erkenntnis, dass es im Leben nicht so gehen kann, an die Stellen zurückzukehren, die einem besonders gut taten, Ereignisse, die einen besonders mitgenommen hatten. Mit Büchern mag dies gehen, aber mit unserem eigenen Leben leider nicht. Diese Erkenntnis kommt bei manchen früher, bei manchen später und bei manchen wiederum gar nicht. Ich glaube, bei mir ist sie nun recht spät eingetroffen. Wenn man tief im Herzen zu verstehen beginnt, dass man nicht mehr zurück kann, zurück ins alte Leben, wo knüpft man den Faden dann im Hier und Jetzt an? Dinge, die einen auch heute noch schmerzen, lassen sich nicht ungeschehen machen. Es gibt solche Dinge, die selbst die Zeit nicht heilen kann, weil der Schmerz einfach zu tief sitzt und einen fest umklammert hält. Je mehr man ihn loslassen will, umso hartnäckiger bleibt er als Wegbegleiter bei einem. Ist man bereit ihn zu akzeptieren, schmerzt er umso mehr. Das gelegentliche Vergessen und Zurückerinnern scheint da das beste Mittel zu sein. Man akzeptiert den Schmerz und man akzeptiert ihn nicht. Man wächst an ihm und man verzweifelt an ihm. Mal mehr und mal weniger, manchmal beherrscht er einen auch, da hilft alles nichts. Wo also anknüpfen? Die Reise des Lebens geht weiter, sie ist im steten Fluss. Warum aber, erinnern wir uns immer wieder an sie? Warum können wir uns an manche, glückliche Momente nicht erinnern und sie wieder aufschlagen wie bei einem Buch?
Bücher erheitern mich, Bücher nehmen mich mit; und dann gibt es Momente, wo sie mich traurig stimmen.

Manchmal frage ich mich, ob ich nicht ein Buch über mein Leben schreiben soll und es während meines ganzen Lebens vervollständigen. Manchmal frage ich mich, was das für einen Sinn haben soll. Denke ich an meine Vergangenheit, verzweifele ich und bereue auch. Warum nur habe ich manche Dinge nicht getan, obwohl ich in dem Moment wusste, dass ich es bereuen würde, als sie noch zu ändern waren? Warum habe ich manche Dinge getan und nicht meinen eigenen Kopf denken lassen? Warum nur habe ich oftmals andere für mich denken lassen?

Würde meine Oma noch in der Wohnung leben, in der ich groß geworden bin, so wäre ich, kaum dass ich die Gelegenheit dazu gehabt hätte, zurückgezogen zu ihr, egal, wie sehr ich mich auch hier in meiner aktuellen Stadt beheimatet fühle. Mein Herz ist noch immer bei meiner Oma und bei meiner Oma ist meine Heimat. Tagelang beschäftigt mich manchmal das abrupte Ende meiner Kindheit, wenn ich wieder einmal davon geträumt habe, wie ich die alte Wohnung besucht habe oder meine Oma dort. Was hat es mir doch das Herz zerrissen, im Traum wie im Wachsein, wenn plötzlich jemand anderes darin wohnte? Mein Zuhause, besetzt von fremden Menschen. Manchmal tut es auch einfach nur weh, davon zu träumen; meine Mutter kommt so selten dann darin vor und selbst wenn ich von ihr träume, dann ist es nicht anders als es früher immer war: Streit, Streit, Streit. Ich bekomme wieder die Schuld, nur ich sei die Schuldige und niemand hilft mir, ich stehe alleine dar. Was tut es doch immer weh, das zu träumen, es entwickeln sich im Traum so starke Gefühle, so ein richtiger Hass und Schmerz gegenüber ihr ... Es tut noch im wachen Zustand weh. Wenn ich aufwache ist es mir manchmal einfach nicht möglich mich zu bewegen, wie gelähmt bin ich. Und immer wieder kehre ich zu der Wohnung zurück, in der wir vier gelebt haben; Meine Großeltern, meine Mutter und ich. Dort fing alles an, dort endete so vieles. Diese Erinnerung will ich loswerden und behalten, es ist ein Schmerz, den auch die Zeit nicht heilen wird können. Er hält einen umklammert, unerbitterlich. Mein Herz ist es, was versteht, dass ich nicht zurück kann und mein Kopf ist es, der sich weigert. Was soll ich nur tun? Habe ich überhaupt ein altes Leben gehabt, an das ich nun anknüpfen kann? Nein, für mich gibt es nichts, wo ich anknüpfen kann, es gibt kein Zurück mehr, nur die Reise nach vorne, stets nach vorne. Ohne Wind mit vielen Hürden, denn das habe ich doch sehr klar begriffen: Mein Leben wird nicht einfach sein, vielleicht selten mal, aber niemals selbstverständlich. Egal, was ich auch tue, ich ziehe es magisch an, das, was passieren kann, was schief gehen kann. Das muss ich akzeptieren oder zumindest tolerieren. Natürlich, es gibt Menschen, die haben ein viel schwereres Leben zu bewältigen, mit tieferen Tiefen oder bei denen es fast immer nur Rückschläge gibt, es ist aber nicht zu verleugnen, dass wir, wir alle, in unserer eigenen kleinen Welt leben und jeder sein eigenes Los zu tragen hat, seinen eigenen Schmerz. Jeder von uns trägt ihn anders, verarbeitet ihn anders; die einen verstehen sich hervorragend darauf, die anderen weniger gut und die anderen vielleicht gar nicht. Man kann Schmerz und Trauer, ein schweres Los nicht mit anderen vergleichen und sollte das Los anderer auch nicht mit dem anderer vergleichen, denn das würde den Schmerz, der doch tief sitzen kann bei manchen, herabwürdigen, ihn vertiefen, weil er nicht akzeptiert wurde, dass man ihn hat. Jeder empfindet Schmerz anders, körperlichen wie seelischen. Nur welcher ist der Schlimmere? Der Körper kann heilen, weil er sich nicht an alles erinnert, die Seele aber, sie erinnert sich an alles und kann nicht vollständig heilen.

Manchmal fällt es mir schwer zu wissen, wie es weitergehen soll. Oft genug wird mir gesagt, wie stark ich doch sei! Früher habe ich immer besonderen Schutz, Narrenfreiheit in der Schule genossen, eben wegen meiner Vergangenheit bzw. weil ich stark geblieben zu sein schien. Nur: Niemand hörte das, was ich sagte: Nein! Ich bin nicht stark! Nur weil ich lachen konnte, wann immer ich wollte. Bin ich gefallen, konnte ich noch immer lachen, manchmal lachte ich auch nur, um andere nicht zu sorgen oder zu beunruhigen, scheinbar zu überzeugend. Geht es mir schlecht, merken es nur sehr, sehr wenige Menschen, manchmal lasse ich es aber auch zu, dass es andere bemerken. Früher aber war es schon fast eine Erwartung der anderen an mich, dass ich stark blieb. War ich es auch nur einmal nicht, geriet nicht nur meine Welt in Chaos. Woher nur habe ich diese "Gabe", Unglück heraufzubeschwören ohne dass ich es will? Nicht nur für mich, sondern auch anderen gegenüber?

Es gibt Momente, in denen denke ich: "Was hat das hier noch für einen Sinn?", aber: Fragt sich das nicht jeder das eine oder andere Mal? Was ist, wenn man selbst auf einmal nicht mehr da ist? Die eigene Welt existiert für einen selbst nicht mehr, aber dadurch werden Teile der Welten um einen herum herausgerissen und man hinterlässt seine eigene Welt doch irgendwie für eine gewisse Zeit. Wie würde man sich selbst fühlen, wenn ein Teil der eigenen Welt einfach herausgerissen würde, von jetzt auf gleich?
das Leben geht weiter, es gibt viel zu entdecken, viel zu tun und viel zu bewegen, denn das Leben ist eine Reise, die uns auf eine viel größere Reise vorbereitet. Eine Reise, die niemand von uns kennt, weder die, die uns begleitet noch die, der wir begegnen werden. Da, wo wir denken, dass ein Ende naht, sollten wir auch bedenken, dass jedes Ende ein Anfang ist. Wie sonst könnten neue Dinge geschehen, wenn andere nicht enden?

Und dennoch: Auch mit dieser Auffassung, die ich jederzeit vollstens vertreten würde, ist es für mich schwierig den Schmerz, der in mir tobt, zu vergessen, weil er einfach nicht heilen kann. Es gibt Wunden, die heilen einfach nicht.

2 Kommentare:

Mari hat gesagt…

Vor ein paar Monaten habe ich einen Film gesehen, bei dem es eine Szene gab, wo die japanische Einäscherung gezeigt wurde.
Ganz plötzlich brach ich in Tränen aus. Es hat mich richtig durchgeschüttelt.
Als Kind habe ich die japanische Bestattungszeremonie meines Opas miterlebt. Ich hatte das damals ganz gut weggesteckt ... so dachte ich bisher. Um so mehr war ich überrascht, dass das Erlebnis mich offensichtlch doch stark bewegt hat. Ich hatte den Schmerz vergessen. Das Herz nicht.

Das Orangenmaedchen hat gesagt…

Ja, so eine Art Schmerz wächst und wächst mit der Zeit. Das, was du schilderst, erinnert mich an einen Satz aus Harry Potter 4: "Den Schmerz für eine Weile zu betäuben, heißt nur, dass er noch schlimmer ist, wenn du ihn schließlich doch spürst." Wahre Worte.
Wir machen es manchmal unbewusst, vor allem als Kinder. Es ist uns unbekannt, wir sind erstmal neugierig und ziehen alles auf, aber solche Situationen, die einen tief berühren, warten manchmal nur darauf, herauszubrechen und verarbeitet zu werden, sodass sie wieder ruhen können, wie ein innerer Vulkan ...